Bezirk Aue​rbach

Rathenaustraße 5
08209 Auerbach

Unerträglich, lieben zu sollen ... oder nicht zu lieben

Gedanken zu Johannes 15, 9-17

„Karin, du müssest heute einmal Frau Wendler mit übernehmen. Die Adresse gebe ich dir gleich. Mike ist ja heute leider ausgefallen.“ Karin nickte nur zu den Worten der Pflegedienstleiterin. „Du wirst sehen, Frau Wendler ist eine ganz nette. Sie verlangt auch kaum etwas. Nur aus dem Bett kann sie nicht selbst in den Rollstuhl kommen.“ Karin war für diesen Hinweis dankbar. Sie war noch nicht lange im Team, war erst vor kurzem mit ihrem Mann in die Stadt ihrer Kindheit und Jugend zurück gekehrt und war dankbar, einen Job in ihrem Beruf gefunden zu haben. Eigentlich war sie ja gelernte Krankenschwester, aber die Arbeit im Pflegedienst machte ihr sichtlich Freude, trotz der körperlichen Belastung. Es war so gegen acht Uhr morgens, als sie die Wohnung dieser Frau betrat. Ein schneller Blick und sie war überrascht von der Ordnung und Harmonie, die diese Wohnung ausstrahlte. „Von der Hüfte abwärts gelähmt“, hatte eine Kollegin ihr gesagt, als es um Frau Wendler ging. Das musste wohl eine bemerkenswerte Frau sein, die ihr Leben trotzdem zu meistern suchte. Karin trat ins Schlafzimmer und presste plötzlich ihr „Guten Morgen“ zwischen den Zähnen heraus, als sie die Frau im Bett liegen sah. Jetzt wusste sie, warum ihr der Name „Wendler“ so bekannt vorkam. Diese Frau war nicht älter als sie. Und diese Frau hatte ihr einst den Verlobten weggenommen. Frau Wendler erkannte Karin nicht. Sie war nur über ihr ruppiges Wesen etwas erstaunt, sagte aber nichts. Auf dem Nachttisch sah Karin noch die Herrnhuter Losungen und eine ziemlich zerlesene Bibel liegen. Dann ging sie. Sie ging mit dem festen Vorsatz, diese Wohnung nicht mehr zu betreten. Zu tief saß der Stachel.

„Hallo, Schatz! Wie war dein Tag?“ Karin wusste, Andys Frage war nicht nur so dahin gesprochen. „Ganz gut“, kam es ihr über die Lippen. „Nein, eigentlich nicht“, verbesserte sie sich. „Was war denn los? Rede es dir von der Seele. Das erleichtert“, meinte Andy. Und sie erzählte ihm von der Begegnung mit Frau Wendler. „Ich hatte dir doch schon vor langer Zeit erzählt, dass ich einen Verlobten hatte. Du weißt ja auch um die Geschichte kurz vor der Hochzeit, als ich überraschend in seine Wohnung kam und er mit einer anderen Frau im Bett lag. Ich habe es damals in dieser Stadt nicht mehr ausgehalten und bin in den Westen gegangen. Diese Frau Wendler ist diese Frau von damals. Der ganze Herzschmerz kam mir da wieder zum Bewusstsein.“ Andy nahm seine Frau in die Arme. „Ich bin der Frau sehr dankbar“, sagte er. „Wenn sie nicht gewesen wäre, wärst du heute vielleicht nicht meine Frau. Ist der Schmerz von damals nicht einer großen Liebe gewichen? Trag ihr es nicht nach. Vielleicht braucht sie gerade jetzt deine Hilfe und ein Stück Liebe.“ Karin lachte ihn an. „Du hast recht, ich bin so froh, dich lieben zu dürfen. Aber zu der Frau gehe ich nicht mehr.“ Damit war die Sache erledigt.

Die Sache war nicht erledigt. Karin hatte am Sonntag dienstfrei und war deswegen in den Gottesdienst gegangen. Aber sie fand einfach keine Ruhe. Das beglückende Gefühl, das sie sonst bei einem Gottesdienst hatte, blieb aus. Dafür musste sie immer wieder an diese Frau Wendler denken. Auf dem Nachhauseweg sprach sie mit Andy darüber. „Ich denke, du solltest doch einmal zu dieser Frau Wendler gehen. Es könnte sein, dass sie vielleicht gerade jetzt deine Zuwendung braucht.“ Karin wollte das nicht wahr haben. Dieser Frau noch ihre Zuwendung schenken? Was verlangte Andy da von ihr? Oder sollte es vielleicht gar Gott selbst so wollen? Diese Gedanken ließen Karin nicht mehr los.

An einem der folgenden Tage, sie hatte Frühdienst, bat sie die Ablösung, Frau Wendler am Abend ins Bett bringen zu dürfen. Sandra war zwar etwas verwundert, war aber auch ganz froh, eine Aufgabe weniger zu haben. So tauchte Karin am Abend bei Frau Wendler auf. Diese saß noch am Tisch und las. Karin sah sofort, es war ein Andachtsbuch, eines, das sie selbst auch zu lesen pflegte. Irgendwie nahm ihr diese Entdeckung die Beklemmung. Und so begann sie ihr Gespräch entspannter als sie dachte. „Frau Wendler, wir sind uns eigentlich schon einmal begegnet vor vielen Jahren.“ „Ich habe normalerweise ein gutes Gedächtnis. Aber an Sie kann ich mich nicht erinnern.“ Sie sagte es mehr fragend als feststellend. Karin schluckte etwas, weil sie nicht so recht wusste, wie sie beginnen sollte. Aber dann sprach sie doch von der peinlichen Begegnung von damals. Frau Wendler schwieg erst etwas betroffen. Was sie dann aber sagte, verschlug Karin den Atem. „Ich habe damals großes Unrecht getan, das weiß ich heute. Ohne es beschönigen zu wollen, aber mein Unrecht hat Ihnen viel erspart.“ Karin wusste zunächst mit dieser Aussage nichts anzufangen. Doch als Frau Wendler ihr Leben mit Wolfgang offen legte, trieb es Karin die Tränen in die Augen. Diese Frau hatte wahrlich viel zu leiden gehabt. Und das Erbärmlichste, was Karin je gehört hatte, auf der Flucht vor Wolfgang war diese Frau die Treppe hinabgestürzt und war seither gelähmt. Er war bald darauf gegangen. „Ich weine diesem Mann keine Träne nach“, sagte sie. „Aber in meiner Not habe ich Gott gefunden. Und ich freue mich jeden Sonntag neu auf den Gottesdienst im Fernsehen.“ Karin nahm Frau Wendler spontan in die Arme. „Ich heiße Karin,“ sagte sie. „Und ich bin die Lisa.“ Noch lange saßen an diesem Abend die Frauen beieinander. Als sie nach Hause ging, wusste sie, wie sie Lisa eine ganz besondere Freude machen konnte. Andy lag längst im Bett, doch er wurde hellwach, als Karin ihm von der Begegnung erzählte und von ihrem Plan sprach.

Am Sonntag tauchten beide bei Lisa auf. Und ehe diese recht begriff, was geschah, wurde sie samt ihres Rollstuhls ins Auto gepackt. Lisa strahlte über das ganze Gesicht, als sie in den Kirchsaal geschoben wurde. Andy hob sie aus dem Rollstuhl und setzte sie auf einen der Stühle. Den Rollstuhl schob er in den Vorraum. Karin saß neben ihr und hielt ihre Hand. Die Freude Lisas schien die ganze Gemeinde anzustecken. Und Karin? Sie spürte plötzlich das beglückende Gefühl wieder, das sie in dem letzten Gottesdienst so vermisst hatte. Die Freude war zurückgekehrt, denn sie durfte lieben, weil sie selbst geliebt wurde.

Volker Schädlich