Bezirk Aue​rbach

Rathenaustraße 5
08209 Auerbach

Zum Sonntag gehört der Gottesdienst

Eine Erzählung zu Offb.1,9-18

Traudel schaut zur Uhr und erschrickt. „Was ist nur heute mit Erika los?“, denkt sie. „Ihr wird doch nichts passiert sein?“ Sie wartet noch ein paar Minuten, lauscht in das Treppenhaus hinein, schaut zum Fenster hinaus. Von Erika ist weder etwas zu hören noch zu sehen. Traudel kann nicht anders. Sie klingelt in der Wohnung nebenan.

Es dauert eine Weile. Dann hört sie Erika zur Tür kommen und diese öffnen. Überrascht blickt sie auf Traudel. „Traudel, was ist los? Brauchst du Hilfe?“ „Das wollte ich dich gerade fragen. Heute ist doch Sonntag. Normalerweise kann ich die Uhr stellen, wenn du das Haus verlässt? Warum bist du heute zu Hause? Geht es dir nicht gut? Oder habt ihr keinen Gottesdienst?“ Erika schaut etwas verdattert auf Traudel. Solche Fragen hat sie nicht erwartet. „Wir haben heute unseren Gottesdienst erst am Nachmittag“, sagte sie. „Na, dann ist ja alles gut“, sagt Traudel erleichtert. „Ich dachte nämlich schon, mit dir ist etwas nicht in Ordnung. Sonst gehst du ja jeden Sonntag um diese Zeit aus dem Haus.“

Erika hätte es nicht gedacht, dass im Haus so Notiz von ihrer Gewohnheit genommen wird. Dass ausgerechnet Traudel sich deswegen Gedanken macht, damit hätte sie keinesfalls gerechnet. Traudel ist vielmehr diejenige, die immer über ihren Glauben lästert. „Wie die Leute doch aufpassen, ob es einem mit dem Gottesdienst wichtig ist“, denkt sie. „Sie hätte bestimmt nicht nachgefragt, wenn ich nur sporadisch gehen würde.“

Gegen Mittag wird Erika angerufen. „Mutti, hättest du Lust, mit uns ins Blaue zu fahren?“ Die Tochter Renate will ihr etwas Gutes tun. Erika schluckt. Es wäre eine Gelegenheit, wieder einmal mit Tochter und Familie zusammen zu sein. Doch dann lehnt sie ab. „Wir haben heute erst am Nachmittag einen besonderen Gottesdienst“, gibt sie als Begründung an. Die Verstimmung der Tochter ist anzumerken, als diese entgegnet: „Du mit deinem Gottesdienst. Es geht doch auch mal ohne dich.“ Dann sagt Erika einen Satz, der Renate sehr nachdenklich macht. „Ja, es geht auch ohne mich. Aber es geht für mich nicht ohne Gottesdienst am Sonntag.“ Renate weiß, ihre Mutter geht bei Wind und Wetter zur Kirche. Nichts kann sie abhalten, es sei denn wirklich eine ernsthafte Erkrankung. Selbst dann versucht sie, im Fernsehen oder Rundfunk einen Gottesdienst zu erleben.

Einige Tage später kommt es zu einem Gespräch zwischen Mutter und Tochter. Renate bedauert es noch einmal, dass Erika nicht am Ausflug teilnahm. „Warum musst du eigentlich immer zum Gottesdienst?“ Die Frage ist ehrlich gemeint. Erika nimmt es auch als ehrliche Frage und geht nicht darüber hinweg. „Ich habe vor Jahren eine große Krise gehabt. Dein Vater war tot. Ihr wart aus dem Haus. Ich war mit mir und der Welt allein. Damals fragte ich mich das erste Mal, warum ich überhaupt gelebt habe. Eine Freundin lud mich in den Gottesdienst ihrer Gemeinde ein. Ich durfte Jesus kennenlernen. Seit dieser Zeit fehlt mir einfach etwas Wesentliches, wenn ich am Sonntag ihm nicht begegnen kann.“ „Also, das verstehe ich nicht. Wie willst du denn einem begegnen, der schon längst tot ist?“ Renate hat in ihrem Leben nur wenig vom christlichen Glauben mitbekommen. Sie weiß nur, dass es hier um einen Gott geht, der irgendwann nach seinem Tod wieder lebendig geworden sein soll. Für sie etwas Unvorstellbares. „Genau das ist der springende Punkt. Dieser Jesus ist nicht tot. In jedem Gottesdienst ist er besonders gegenwärtig. Ich spüre das beim Singen, beim Beten, beim Hören auf die Worte aus der Bibel. Ich spüre das auch in der Predigt. Auch wenn diese manchmal nicht so gut ausfällt, wie ich mir das wünsche. Aber dieser Christus ist da. In dieser Gemeinde und in anderen Gemeinden ebenso. Und ich bekomme Lust, die neue Woche wieder anzugehen mit seiner Hilfe.“ Es ist das erste Mal, dass Erika so ein langes und offenes Bekenntnis vor ihrer Tochter abgibt. Renate ist fassungslos. Sie kann das Gehörte noch gar nicht richtig begreifen. Aber sie ahnt, da ist etwas, was ihrer Mutter wichtiger ist als alles andere auf der Welt. Sie weiß es in diesem Moment, ihr wird es nie mehr einfallen, ihre Mutter von einem Gottesdienstbesuch abzuhalten. Der Gottesdienst am Sonntag kann durch nichts ersetzt werden.

Volker Schädlich